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D A S   D O R F

Curated by Ingo Taubhorn

8. September – 31. Oktober 2023

Öffnungszeiten

Di. – Fr., 11 – 18 Uhr

Getreidemarkt 14

1010 Wien

Wir freuen uns sehr, die Ausstellung „Das Dorf“ in unserer Wiener Galerie ankündigen zu dürfen. Sie findet im Rahmen des Galerienfestivals „Curated by“ statt und wurde von Ingo Taubhorn, dem Leiter des Hauses der Photographie in den Hamburger Deichtorhallen, kuratiert.


Die Ausstellung „Das Dorf“ versammelt Fotos der ostdeutschen Ortschaft Berka aus sieben Jahrzehnten. Ute Mahler und Werner Mahler, die Mitbegründer der bekannten Ostkreuzagentur der Fotografen, und Ludwig Schirmer, der Vater von Ute Mahler, haben das Alltagsleben der Thüringer Gemeinde von den 1950er bis in die 2020er Jahre mehrfach mit der Kamera eingefangen, und zwar größtenteils ohne von den Werkserien der jeweils anderen zu wissen.


Durch die Präsentation verschiedener Langzeitstudien von ein und demselben Ort versucht sich Ingo Taubhorn, der Kurator der Ausstellung, dem Thema „Das Neutrale“ zu nähern, unter dem das Galerienfestival „Curated by“ in diesem Jahr steht.


„Das Neutrale“ galt in den Anfängen der Fotografie als Ideal und Rechtfertigung für das neue Medium, das um seine Anerkennung in der Kunst oder zumindest in der visuellen Gestaltung kämpfte. Anders als die Malerei sollte das Lichtbild dazu dienen, die Welt objektiv, ehrlich und authentisch festzuhalten – so jedenfalls wurde es von seinen frühen Protagonisten gepriesen.


Die Einordnung erwies sich als Trugschluss. Auch in der Fotografie zog rasch die Erkenntnis ein, dass es die individuelle, die eigenständige, die besondere Handschrift brauchte, um Kraft, Emotionalität und Wirkung zu erzeugen. Es war schnell klar, dass mit Licht, Schärfe und Ausschnitt gespielt werden musste, dass es unausweichlich war, mit Raffinesse zu tricksen, zu überhöhen und zu manipulieren, wenn man die Betrachter begeistern oder zumindest bei der Stange halten wollte – und dass das neutrale, unvoreingenommene Fotografenideal ein netter Irrweg war und das Objektiv nur Objektiv heißt.


Die verschiedenen Langzeitstudien des Ortes Berka von Ute Mahler, Werner Mahler und Ludwig Schirmer sind der beste Beweis dafür. Obwohl familiär verbunden, obwohl vom Blick her ähnlich geschult, obwohl ausschließlich der schwarz-weißen Analogfotografie verpflichtet, eröffnet uns jeder von ihnen seine eigene, seine individuelle, seine ganz und gar nicht neutrale Sicht auf das Leben in der Provinz - die Enge, die Idylle, die Beschaulichkeit, die Bedrohlichkeit, die Sehnsucht, die Melancholie, die Wut, das Komplizierte im Einfachen, das Kaputte im Intakten, das Schöne im vermeintlich Hässlichen.


Jede der gezeigten Berka-Serien verrät etwas anderes. Jede will etwas anderes verraten. Keine bleibt neutral.


Aber in der Kombination, in der Gegenüberstellung, in der erstmaligen Präsentation nebeneinander geben sie dem Betrachter die Möglichkeit, sich selbst einem neutralen Blick anzunähern. „Denn“, so Ingo Taubhorn, der Kurator der Ausstellung, „wie in der Naturwissenschaft und in der Philosophie gilt auch für die Kunst und die Fotografie, dass erst in der Einbringung, Wahrnehmung, Abwägung und Validierung verschiedener Elemente, Quellen, Standpunkte und Darstellungen so etwas wie eine neutrale Position eingenommen werden kann, dass diese also nie dem Schöpfer eines Werkes möglich ist oder erlaubt sein darf, sondern immer nur dem Betrachter unter vergleichender Einbeziehung anderer Werke.“


Entscheidend ist für Ingo Taubhorn dabei, dass das Projekt „Das Dorf“ überdies eine Familiengeschichte ist, die Aspekte von Zeit und Wandel untersucht. Berka ist sowohl der Heimatort von Ludwig Schirmer als auch seiner Tochter Ute Mahler. Durch seine Lage in der ostdeutschen Provinz war und ist er in den letzten Jahren einem ständigen, teils radikalen Wandel unterworfen, der sich – von der DDR-Zeit über die Wiedervereinigung bis zur mehr oder minder gelebten Einheit – in den Fotos widerspiegelt.


In den 1950er und 1960er Jahren arbeitete Ludwig Schirmer (1929-2001) als Müllermeister im Dorf. Schon damals war die Fotografie seine große Leidenschaft, und so begann er kurz nach Ende des zweiten Weltkrieges, das Leben, die Feste und den Alltag in der kleinen Ortschaft zu dokumentieren. Später, nachdem er Berka verlassen hatte, wurde Schirmer zu einem der meistbeschäftigten Werbefotografen in der ehemaligen DDR. Seine Berka-Bilder verschwanden in Kisten und auf Dachböden. Erst nach seinem Tod im Jahr 2001 wurden sie entdeckt, die meisten davon lediglich als Negative, die nie vergrößert worden waren.


Werner Mahler (*1950), der Schwiegersohn von Ludwig Schirmer, entschloss sich 1977 - ohne Schirmers Bilder zu kennen - seine Diplomarbeit für die Hochschule für Grafik und Buchkunst Leipzig in Berka zu fotografieren. Das Ergebnis war eine Arbeit mit über 150 Schwarz-Weiß-Fotografien, die er in einem Künstlerbuch methodisch zusammenfasste und die eindrucksvoll die Gemeinschaft des Ortes nachzeichnete. 1998 fotografierte Werner Mahler noch einmal in Berka: Acht Jahre nach der Wiedervereinigung kehrte er an den Ort zurück, um in einer weiteren Langzeitstudie die Veränderungen der Dorfgemeinschaft festzuhalten.


Die Arbeit von Ute Mahler (*1949), Tochter von Ludwig Schirmer und Frau von Werner Mahler, kann als familiärer Nachfolger dieser beiden Projekte angesehen werden. Sie entstand in den Jahren 2021 bis 2022 und wirft - in Kenntnis der anderen Berka-Serien – einen eigenständigen Blick auf ihren Geburtsort. Ute Mahler begab sich auf die Spurensuche ihrer Kindheit. Sie fotografierte im Gegensatz zu den Bildern von Ludwig Schirmer und Werner Mahler vor allem die junge Generation und die Heranwachsenden. Im gleichen Alter wie die Porträtierten, verließ sie Berka, die Mühle und die Idylle.


Das Projekt „Das Dorf“ stellt somit Fragen nach Heimat und Kindheit, nach Wegziehen und Zurückkommen, nach Alt und Neu, nach Bekanntem und Unbekanntem. Die fotografische Langzeitbetrachtung dokumentiert über 70 Jahre das Leben in einem Dorf aus drei unterschiedlichen Positionen einer Fotografenfamilie.


In der Ausstellung „Das Dorf“ werden die Berka-Studien von Ute Mahler, Werner Mahler und Ludwig Schirmer zum ersten Mal gemeinsam gezeigt. Die Serien von Ludwig Schirmer und Ute Mahler sind überhaupt zum allersten Mal zu sehen.


Ludwig Schirmer, 1929 in Wenigenehrich, Thüringen, geboren, absolvierte ab 1943 eine Landwirtschaftslehre und arbeitete anschließend im elterlichen Betrieb. Ab 1947 machte er eine Ausbildung zum Müller, die er 1953 mit einer Meisterprüfung des Müllerhandwerks abschloss. Von 1953 bis 1961 arbeitete er als Müllermeister in der Wassermühle der Familie in Berka, Thüringen. Ab 1950 intensivierte er seine autodidaktische Beschäftigung mit Fotografie. Nach dem Umzug nach Berlin arbeitete er als freiberuflicher Fotograf für Außenhandelsunternehmen, Industriekombinate und kulturelle Institutionen der DDR. Ludwig Schirmer gehört zu den prominentesten Vertretern der angewandten Fotografie in der DDR und galt als führender „Werbefotograf“ in Ostdeutschland. 2001 verstarb Ludwig Schirmer in Berlin.


Ute Mahler, 1949 in Berka, Thüringen, geboren, schloss 1974 ihr Studium der Fotografie an der Hochschule für Grafik und Buchkunst in Leipzig ab und arbeitet seitdem als freischaffende Fotografin. Sie war ab 1981 Mitglied im Verband Bildender Künstler (VBK) der DDR und gründete 1990 mit sechs ostdeutschen Fotografen die renommierte Ostkreuzagentur für Fotografen, aus der später die Ostkreuzschule hervorging. Von 2000 bis 2015 hatte sie eine Professur für Fotografie an der Hochschule für Angewandte Wissenschaften in Hamburg inne. Vor der Wende wurden ihre Arbeiten u.a. in der DDR-Modezeitschrift Sibylle veröffentlicht. Ab 1989 arbeitete sie für nationale und internationale Magazine. Sie verfolgte (neben den Auftragsarbeiten und später der Lehre) immer eigene künstlerische Projekte, seit 2008 auch gemeinsam mit ihrem Mann, dem Fotografen Werner Mahler. Ute Mahlers Arbeiten wurden weltweit in zahlreichen Ausstellungen präsentiert, u.a. widmete das Haus der Photographie in den Hamburger Deichtorhallen den Mahlers 2014 eine große Werkschau, die 2019 im Fotomuseum Den Haag in den Niederlanden („Jenseits der Grenzen der DDR“) in vergrößertem Umfang gezeigt wurde. Ute Mahler lebt mit Werner Mahler in Lehnitz bei Oranienburg in Brandenburg.


Werner Mahler wurde 1950 in Boßdorf, Sachsen-Anhalt, geboren. Seine fotografische Karriere begann er 1971 als Assistent von Ludwig Schirmer. 1978 schloss er sein Studium der Fotografie an der Hochschule für Grafik und Buchkunst in Leipzig ab. In seinen Arbeiten der 1970er und 1980er Jahre dokumentierte er auf eindringliche Weise das Leben in der DDR, etwa den Alltag in dem thüringischen Dorf Berka, die Arbeit in einem Steinkohlebergwerke bei Zwickau oder die politisch aufgeladenen Derbys zwischen den Fußballvereinen FC Union und BFC Dynamo.
Nach der Wende gründete Werner Mahler die Ostkreuzagentur für Fotografen mit, deren Geschäftsführer er lange Zeit war. 2005 rief er gemeinsam mit Thomas Sandberg die Ostkreuzschule für Fotografie ins Leben. In seinen neueren Arbeiten kommen häufig historische Kameras zum Einsatz. Mit der Camera Obscura schaffte er traumartige Sequenzen von Schweizer Seen, brandenburgischen Landschaften oder Leonardi da Vincis Wirkstätten in Norditalien. Gemeinsam mit seiner Frau Ute Mahler fotografierte er mit einer alten Plattenkamera Mädchen im Übergang, zwischen Stadt und Land, Kindheit und Reife. Das so entstandene Buch- und Ausstellungsprojekt „Monalisen der Vorstadt“ wurde 2011 mit mehreren Fotopreisen ausgezeichnet. Werner Mahler lebt mit Ute Mahler in Lehnitz bei Oranienburg in Brandenburg.


Ingo Taubhorn(*1957 in Dortmund) ist Kurator des Hauses der Photographie, Deichtorhallen Hamburg. Von 1980 bis 1985 absolvierte er ein Studium für Visuelle Kommunikation an der Fachhochschule für Fotografie und Film in Dortmund, das er mit dem Diplom abschloss. Ab 1988 war Taubhorn als freier Kurator tätig, u.a. für die Galerie F.C. Gundlach, Hamburg, das Museum Folkwang, Essen, die Pat Hearn Gallery, New York, und die Neue Gesellschaft für Bildende Kunst, Berlin. Anfang der 2000er Jahre wurde er ins Kompetenzteam zur Gründung des Hauses der Photographie in den Hamburger Deichtorhallen berufen, das er seit 2006 als Chef-Kurator leitet. Seit 2010 ist er überdies Präsident der Deutschen Fotografischen Akademie, daneben hat er zahlreiche Lehraufträge für Fotografie und Bildmedien, u.a. an der Hochschule der Künste Bremen, der Universität Witten-Herdecke, der Fachhochschule Bielefeld, der Hochschule für angewandte Wissenschaften in Hamburg sowie der Ostkreuzschule in Berlin.

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