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C H R I S T O P H

S C H L I N G E N S I E F

Deutschlandsuche

12. September  – 9. November 2024

Öffnungszeiten

Di. – Sa., 11:00 – 18:00 Uhr

Fasanenstraße 29

10719 Berlin

Christoph Schlingensief

Deutschlandsuche


Text der Kuratorin Anna-Catharina Gebbers (Hamburger Bahnhof)


„Die Kunst muss politischer werden“: Mit diesem Satz zitierte Christoph Schlingensief 1998 vermeintlich den damaligen Bundespräsidenten Roman Herzog. Schlingensief zog daraus die Konsequenz, nicht nur die Kunst politisch, sondern auch die Politik kunstvoll zu machen und gründete eine Partei.


Die Ausstellung „Christoph Schlingensief | Deutschlandsuche“ bei Crone Berlin nimmt das von Schlingensief ausgelotete Verhältnis zwischen Kunst und Politik zum Ausgangspunkt, um sein stets gesellschaftskritisches Werk in der aktuellen, aggressiv aufgeladenen und politisch polarisierenden Situation wieder präsent zu machen.


Ähnlich wie zuvor nur bei Joseph Beuys gehören das Spiel mit den Medien und dem Format Interview zum Werk von Christoph Schlingensief. Sein Schaffen wiederum regte andere Autor*innen wie Sibylle Dahrendorf, Peter Kern und Alexander Kluge zu filmischen Essays und Interpretationen seines Werkes an. Die Presse berichtete ausführlich über seine Aktivitäten. Wir bilden in der Ausstellung sowohl einen Ausschnitt aus dem Spektrum von Werken ab, die Schlingensief selbst geschaffen hat, als auch eine Auswahl von Dokumentarfilmen anderer Autor*innen über sein Schaffen sowie Interviews mit ihm. Ergänzt werden diese Bewegtbilder durch Texte von und über Schlingensief sowie Planungsskizzen, Produktionsmaterialien, T-Shirts, Sticker oder Buttons, die im Rahmen seiner Projekte entstanden sind. Damit deutet sich die Vielfalt der Blickwinkel auf den Künstler Christoph Schlingensief und sein Werk an.


„Christoph Schlingensief | Deutschlandsuche“ stellt vier Werkkomplexe mit neuen, bisher unveröffentlichten Materialien vor, die den Vergleich zur politisch motivierten Aktionskunst von heute ermöglichen:


„Hamlet (2001)“ inszeniert Schlingensief am Züricher Schauspielhaus mit dem Züricher Schauspiel-Ensemble, Gästen und einer Gruppe von ausstiegswilligen Neo-Nazis. Sie spielen die Theatertruppe, die mit der Aufführung eines Schauspiels im Schauspiel dem Königsmörder und neuen König Claudius seine mörderische Tat vor Augen fuhren. Shakespeare macht in seinem Stück deutlich, dass es zahlreiche einander ausschließende und trotzdem nebeneinander existierende Wahrheiten gibt. Schlingensief stellt diese Uneindeutigkeit der Wahrheiten, die Vielzahl der Perspektiven und die gewissensberuhigenden Erinnerungslücken ins Zentrum seiner Inszenierung.

An „Hamlet“ interessiert Schlingensief einerseits die im Stück inhärente formale Auseinandersetzung mit dem Medium Theater, seiner Fähigkeit parallele Wahrheiten etwa durch ein Stück im Stück (wie Die Mausefalle im Hamlet) und andererseits die Figur des sich im politischen System seiner Zeit unwohl, familiär wie gesellschaftlich ausgeschlossen fühlenden Hamlet, der nach anderen Wegen sucht.


Durch Audioeinspielungen von Gustaf Gründgens „Hamlet“-Inszenierung von 1963 am Deutschen Schauspielhaus Hamburg zitiert Schlingensief nicht nur die Aufführungsgeschichte des Dramas, sondern auch die politische Geschichte des möglichen künstlerischen wie generellen Mitläufertums im Faschismus: Von 1936 bis 1942 spielte Gründgens selbst rund 140 mal den Hamlet am Berliner Staatstheater – seine meistgespielte Bühnenrolle in der NS-Zeit, deren Interpretation in Bezug auf seine Haltung zum Nazi- Regime damals wie heute umstritten ist.


2001, im Vorfeld von Schlingensiefs Inszenierung in Zürich, stellt die rechtspopulistische Schweizer Volkspartei SVP eine parlamentarische Anfrage, ob sich das Stück verbieten lasse. Schlingensief reagiert darauf mit einer Demonstration vor dem Haus des damaligen SVP- Präsidenten Christoph Blocher sowie mit der Forderung nach einem Verbot der SVP und des personell eng mit der SVP verflochtenen Eishockeyclubs ZSC mit seinem bekannten, aber ignorierten massiven Hooliganproblem in der Anhängerschaft: Die traditionell an der Berner Allparteien-Regierung beteiligte SVP sei „volksverhetzend“ und ihre Ausländer- und Asylpolitik bilde den Nährboden, auf dem Rechtsextremist*innen gedeihen könnten.


In der schon vor der Premiere des Stückes aufgeheizten Stimmung artikuliert sich der Wunsch, den Deutschen und seine deutschen Nazis zurück nach Deutschland zu schicken – die Schweiz sei neutral und kenne keinen Rassismus. Die Aufführungen flankiert Schlingensief daraufhin mit weiteren Straßenaktionen zum Aussteigerprogramm Naziline und Diskussionen mit dem Publikum. So wie die Schauspieltruppe im Schauspiel dem Machthaber Dänemarks einen Spiegel vorhält, konfrontiert Schlingensief in Zürich mit den ausstiegswilligen Neo-Nazis, seinem realen Resozialisierungsprogramm und den Publikumsdiskussionen die sich als neutral bezeichnende Schweiz mit ihrer Geschichte. Schlingensief offenbart den fließenden Übergang zwischen Gegenwart und Vergangenheit, Gesellschaft und Theater, Publikum und Schauspieltruppe, verschiedenen Wahrheiten und Populismus. Und er eröffnet mit seinem Angebot resozialisierungswilligen Neonazis eine lohnende Alternative zu einem rechtsradikalen Umfeld.


Das Ausbeuten von Ängsten, durch das unter anderem Ausländer- und Islamfeindlichkeit, Antisemitismus und Rassismus geschürt werden, bildet schon zuvor einen der Anlässe für Christoph Schlingensiefs Parteigründung. Mit „Chance 2000 (1998-1999)“ zieht Schlingensief 1999 in den Bundestagswahlkampf. Ziel ist es, den Unsichtbaren der Gesellschaft wie Obdach- und Arbeitslosen, Menschen mit Behinderungen und chronischen Krankheiten eine eigene Stimme zu geben: seine eigenen Ängste selbst auszusprechen und diese nicht der Instrumentalisierung durch Politiker*innen und Populist*innen und deren Machtansprüchen zu überlassen.


Die Partei selbst erklärt jedoch keine eigenen Ziele, verspricht nichts und offenbart so politische Mechanismen: alle können sich angesprochen fühlen. Die einzige Parole lautet „Handeln, Handeln, Handeln“ – „Machen Sie mal was! Was ist egal“.


In Anlehnung an Bertolt Brecht lautet der Wahlkampfsong „Der Blick in das Gesicht, eines Menschen dem geholfen ist, ist der Blick in eine schöne Gegend! Freund, Freund, Freund!“


Auf die Vereinsgründung Chance 2000 e.V. mit Prominenten wie Alfred Biolek, Wolfgang Joop und Harald Schmidt und die Parteigründung im März 1998 nach einer Woche Wahlkampfzirkus im Zirkuszelt der Familie Sperlich auf dem Volksbühnengelände im Berliner Prater folgen zahlreiche Aktionen. So macht die Parteispitze im Juni und Juli 1998 mit ihrem Wahlkampfbus an Theaterhäusern in ganz Deutschland Station, um die Partei vorzustellen.


Anschließend zieht Schlingensief mit Arbeitssuchenden, Sozialhilfeempfänger*innen und Menschen mit Behinderung zum Einkaufsbummel ins KaDeWe. Im August 1998 lädt Schlingensief sechs Millionen Arbeitslose zur Aktion Baden im Wolfgangsee ein, um das Feriendomizil des damaligen Kanzlers Helmut Kohl durch den Anstieg des Wasserspiegels zu überfluten (sechs Millionen könnte eine Anspielung an die sechs Millionen von den Nazis ermordeten Jüdinnen und Juden im Holocaust sein, da die Statistiken in den Jahren 1998-99 tatsächlich ca. 4,2 Millionen Arbeitslose aufweisen). Auf der Tour des Verbrechens, der Wahlkampftournee von Chance 2000 im September 1998, werden weitere Städte mit dem Wahlkampfbus angefahren, um mit den Menschen auf der Straße ins Gespräch zu kommen.


Als die Partei trotz einer 190.000-DM-Spende von Wolfgang Joop an die 120.000 DM Schulden anhäuft, kündigt Schlingensief den Verkauf der Partei an – und macht so auf die Käuflichkeit in der Politik aufmerksam.


Mit elf Landesverbänden und mehreren Tausend Mitgliedern wird die Partei schließlich für die Bundestagswahl 1998 zugelassen. Sie erhält am 27. September 1998 bei der Bundestagswahl 0,007 % der Erststimmen (3.206 Stimmen) und 0,058 der Zweitstimmen (28.566 Stimmen). „Scheitern als Chance“ gehört zu den bekanntesten Slogans der zunächst Partei der letzten Chance genannten Partei. Und folgerichtig zelebrieren Schlingensief und seine Mitstreiter*innen am Wahlabend das Wahldebakel in der Volksbühne Berlin. Schlingensief lässt sich mit seiner ideologielosen, künstlerischen Partei real auf den Wahlkampf ein, fordert die Menschen zur eigenen Reflektion über ihre Ängste auf, sich dabei selbst zu wählen, und stellt so den Populismus auf den Kopf, mit dem Parteien auch heute auf Stimmenfang gehen.


1999 begibt sich Schlingensief auf „Deutschlandsuche (1999-2000)“. Die Suche gilt der Entwicklung von Überlebensstrategien für Deutschland sowie dessen Identität im 21. Jahrhundert und erfolgt über mehrere Projekte: Mit der Theatertournee Wagner lebt - Sex im Ring gastieren Schlingensief und seine Schauspieltruppe in zehn deutschsprachigen Städten, darunter Weimar, Stuttgart, Hamburg, Basel und Kassel. Straßenaktionen am Nachmittag gehen der abendlichen Vorstellung voraus: Aus einem Schwarz-Rot-Gold bewimpelten Wagen werden die jeweiligen Spielorte mit Wagnermusik beschallt und Wagnertexte rezitiert. Am Abend lädt Schlingensief im Theater zu einer Mischung aus Parteiveranstaltung, Seifenoper und Talkshow ein.


Es folgen am 3. Oktober 1999 im Schauspielhaus Hamburg der Erste und am 22. November 1999 an der Volksbühne Berlin der Zweite Internationale Kameradschaftsabend - Werkzeugkasten der Geschichte. Dazwischen legt Christoph Schlingensief für die Aktion Deutschland versenken in New York in der Kleidung eines orthodoxen Juden auf der Tournee gesammelte Alltagsgegenstände in einen Koffer und wirft diesen sowie eine Urne am 9. November 1999 in den Hudson River. Vor der Freiheitsstatue fällt er auf die Knie, um Deutschland der Globalisierung zu übergeben.


Seiner Bemerkung folgend, dass der Koffer vermutlich in Namibia, dem ehemaligen Deutsch- Südwestafrika, angeschwemmt würde, reist Schlingensief auf seiner Deutschlandsuche abschließend für eine Wagnerralley durch die namibische Wüste. Dort beschallt er als Finale die ehemalige deutsche Kolonie und ihre Überreste mit Kompositionen von Wagner. Die Suche nach dem Ring der Nibelungen und die mögliche Befreiung von der menschlichen Verstrickung in Macht, Besitz und Unfreiheit endet im Sand der namibischen Omaheke- Wüste (dem Ort des von Deutschen an den Herero und Nama verübten Völkermords) und in der nicht aufgearbeiteten deutschen Kolonialgeschichte.


2005 entsteht ebenfalls in Namibia, in Lüderitz' Area 7, eines der letzten Werke von Christoph Schlingensief: „The African Twintowers“. Die Dokumentation der Dreharbeiten mit rückblickend von Schlingensief eingesprochenen Kommentaren erscheint 2008 und bietet Einblicke in die Arbeitsweise des Künstlers und seine stetige Suche. Aus dem Werk fließen Fragmente in mehrere Projekte wie Area 7 (2006), Stairlift to Heaven (2007) und Kaprow City (2007) ein. Schlingensief folgt der kolonialen Geschichte Deutschlands und deren anhaltenden Folgen im Armutsproblem großer Bevölkerungsgruppen in Namibia und generell der hohen Zahl der täglich durch Bürgerkriege, Hunger und Krankheiten sterbenden Menschen. Schlingensief zeichnet sein eigenes Scheitern unter dem Gewicht der deutschen Geschichte nach.


Foto:

Christoph Schlingensief, Animatograph - Island Edition, Reykjavik, 2005, Foto: Aino Laberenz, Courtesy Nachlass Christoph Schlingensief, Berlin

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