C R I M E A S O R N A M E N T
Havîn Al-Sîndy, Shilpa Gupta, Ayham Majid Agha, Marcel Odenbach, Noara Quintana, Pauł Sochacki, Kandis Williams, Philip Wiegard
Curated by María Inés Plaza Lazo
17. September – 19. October 2024
Öffnungszeiten
Di. – Fr., 11 – 18 Uhr
Sa., 12 – 16 Uhr
Getreidemarkt 14
1010 Wien
Verbrechen als Ornament
Text der Kuratorin María Inés Plaza Lazo
Die Komplexität menschlicher Erfahrung wird umso ungreifbarer, je mehr wir versuchen sie mit Worten zu beschreiben. Nach den beiden Weltkriegen gehorchte die Vereinfachung universalistischer Imperativen. Diesem Drang nach Auslöschung von Parallelen, Ambivalenzen und Widersprüchen unterlagen das Sammeln, die Einrichtung von Archiven und auch die Gestaltung von Gebäuden wie jenem, in dem diese Ausstellung stattfinden wird: Sie alle sollten eine chronologische Sortierung der Welt aufrechterhalten; eine technokratische, imperiale Ordnung, die Machtstrukturen zugleich feiert und verbirgt.
Ausstellungsräume dienen aber auch der Stille sowie der Erzählung von Ungesagtem. Beide möchte ich den Gegenthesen zu Adolf Loos’ Vorstellungen in seinem kontroversen Essay “Ornament und Verbrechen” klarer, einfacher und einheitlicher Narrative zu Anfang des 20. Jahrhunderts hinzufügen. Loos’ Forderung nach Reduktion und Klarheit ist gefangen in einem alten Nervensystem; in Formen der Zugehörigkeit und Anerkennung, die nur für einen bestimmten Typus Bürger erdacht und durchgesetzt wurden. Diese Formen verändern sich zur Zeit gewaltsam, im Chaos alternativer, gemeinschaftlicher Versuche von Gesellschaftsgestaltung. Wir hatten die Möglichkeit, Geschichte und Gegenwart durch nichtbinäre, interspecies- und postkoloniale Perspektiven zu verstehen und zu vervielfältigen. Jetzt sind die verpassten Aufgaben präsenter denn je.
Ständig tauchen sie auf, Bilder von amputierten Kindern, auf den Glasoberflächen mobiler Handgeräte. Das Gefüge zwischen dem Sterben an einem entfernten Ort, einer technokratischen Struktur, die Ströme von Bildern dieses Sterbens orchestriert, sowie einer moralischen Ökonomie, in der diese Bilder als Tokens dienen, ist verworren, verstörend und monströs. Es gibt einen Riss in der sogenannten Zivilisation, der einem epistemischen Erdrutsch folgt, dessen Folgen weder absehbar noch navigierbar scheinen. Hilflos erleben wir tagtäglich als Zeug*innen, wie auf unseren Bildschirmen Verbrechen zu Ornamenten werden.
Loos’ Ablehnung von Ornamenten ist letztendlich Ausdruck einer westlichen kulturellen Hegemonie, die andere ästhetische Traditionen und Ausdrucksformen marginalisiert. Das mag sich heute relativiert haben. Doch geschieht die Anerkennung jener ‘anderen’ Ausdrucksformen nur entweder im Widerstand oder in ihrer Exotisierung, was die hegemoniale Ordnung nach wie vor aufrechterhält. Wien bietet heute eine vielfältige architektonische Mischung aus historischen Gebäuden, moderner Architektur und zeitgenössischem Design. Sie erlaubt, Kontinuitäten wie Brüche in Denkweise und Praxis im Bereich der Architektur, des Designs und der künstlerischen Produktion anschaulich nachzuvollziehen.
Der Text von Noit Banai für Curated By 2024 verdient nicht nur, den gedanklichen Rahmen dieses Festivals zu bestimmen, sondern auch direkt im Gespräch mit Kunstwerken zu stehen. Banais Plädoyer für eine vielfältige und inklusive Herangehensweise an Gestaltung und Geschichtsschreibung möchte ich im Widerspruch zu Loos’ rigiden Vorstellungen sehen. Indem sich Banais’ Argumentationen auf kulturelle Vielfalt und die subjektive Wahrnehmung von Schönheit und Ästhetik konzentrieren, stehen sie Loos’ Theorien über Ornamente unmittelbar entgegen. Subjektive Ästhetik ist nicht unbedingt das, was mich persönlich als Kuratorin interessiert; sie prägt auch nicht die Kunstwerke, die in der Galerie Crone versammelt sind. Eher zeigen diese Werke Formen der Kontemplation von Subjektivitäten nur insofern sie zwischen persönlichen Vorlieben, kultureller Zugehörigkeit und historischen Kontextualisierungen differenzieren.
In “Belle Epoque dos Tropicos” sucht Noara Quintana verlorene Symbole der europäischen Kolonialisierung Brasiliens. Der Kautschukanbau sowie die Wirtschaftskrise der Region betreffen nicht nur ihre ganze Familie, sondern prägen auch ihre künstlerische Arbeit. Diese basiert auf der Materialität alltäglicher Gegenstände, in denen geisterhafte Spuren kolonialer Imaginative wie Jugendstilfantasien wiederkehren, sowie die von Individuen, Praktiken und Identitäten, die von den neokolonialen Strukturen der Moderne zum Schweigen gebracht wurden. Quintanas Ornamente auf fluoreszentem Kautschuk verwickeln Exotisiertes und Extinktes, Anerkanntes und Unterdrücktes.
Die Wandtapeten von Philip Wiegard sind eine Art Präambel zur Ausstellung: Seine abstrakten Designs entstehen aus einer Ethik der Kooperation, wie Wolfgang Ullrich sie so schön in Wiegards Katalog seiner Soloausstellung im Schloss Gandegg beschreibt. Die Muster bestehen aus disparaten Farben, Formen und Texturen. Sie werden immer von Kindern in sorgfältig vorbereiteten Workshops kollektiv bemalt. Wiegard bleibt der Initiator des Prozesses, der jedes Kind für seine Mitwirkung bezahlt. Loos sah in der Ornamentik einen kulturellen „Rückschritt“ (wohin eigentlich?) und betrachtete schlichte, unverzierte Formen als Ausdruck moralischer und intellektueller Integrität. Bei Wiegard steht das Ornament für eine universelle Offenheit für die Vielfalt der menschlichen Erfahrung und den Reichtum möglicher Perspektiven.
Die Malerei von Paul Sochacki lässt Fabelwesen und Zitate aus der Welt der Kunst einander zwanglos begegnen. Seine Malerei bewegt sich auf den ersten Blick zwischen Abstraktion und Romantik. Vertraute Motive verführen mit Poesie und Humor zu komplexen Lesarten. Tauchen wir in seine Geschichten ein, beginnen wir Zusammenhänge mit realen Situationen und ihrem sozialen Kontext zu erkennen. Obwohl Sochackis Bilder manchmal kindlich und märchenhaft erscheinen, stellen sie oft eine scharfe Reflexion sozialer Verhältnisse dar. Diese beschäftigt Sochacki auch als mein Mitherausgeber der Straßenzeitung Arts of the Working Class. In dieser Ausstellung wird er die verschiedenen Räume zu einem Gefüge der Spekulation über die Werte der Kunst verknüpfen.
Loos’ Begriff des "geschmackvollen Fälschers", mit dem er Künstler zu beschreiben versuchte, die in seiner Zeit Ornamente schufen, bringt mich zu der Arbeit von Marcel Odenbach. In einem experimentellen Umgang mit Film, Rhythmus, Sound und Sampling entwickelt Odenbach seit den 1970er Jahren eine spezifische Bildsprache unter Verwendung von Archivmaterial, Film- und Fernseh-Schnitten sowie selbst produzierten Bildern und Filmsequenzen. In seiner Serie „Außer Rand und Band“, die für den Hamburger Verein Griffelkunst entstand, ordnet er assoziativ oder thematisch korrespondierende Motive aus unterschiedlichsten Quellen an. Manche Schnittvorlagen stammen aus der Stürmung des Kapitols durch Trump-Anhänger 2020 in Washington. Andere zeigen ein düsteres Kapitel der deutschen Kolonialgeschichte in Afrika. Mit der Aneignung der Form des historischen Tapetenmusters, das keinen Vorstellungen von Schönheit oder Dekoration folgt, sondern illustriert und dadurch kritisiert, stellt Odenbach einen Kontrast zu Loos und eine Nähe zu Sigrid Krakauers Essay „Ornament der Masse“ her, der Film und Fotografie als Ausdruck der neuen Ästhetik von Massenkultur analysierte.
Es gibt Dekorationen und Ornamente, die nicht durch erzwungene Modernisierung veralten, sondern durch ihre Nutzung. Shilpa Guptas Installation „Stars on Flags of the World“ entstand aus dem andauernden Interesse der Künstlerin an der Unbeständigkeit geografischer Markierungen und imaginärer Gemeinschaften, von Nationalität und Mobilität. „Wie kommt es, dass alle Länder ihren Bürgern erzählen, sie seien die besten?“, fragt Shilpa Gupta und zitiert dabei eine Zeile aus Benedict Andersons Buch "Imagined Communities“. Ein Haufen auf dem Boden ausgelegter Sterne lädt ein zu fragen, wie konkurrierende Nationalitäten sich überhaupt denselben Raum teilen oder in einen Dialog treten können. Jede*r kann die Sterne mit nach Hause nehmen. So bietet Gupta eine inklusive Herangehensweise an die Frage der Zugehörigkeit und manipulierter Machtverhältnisse.
Die Ruinen der Modernisierung, auf die sich die Aufnahmen und die Musik beziehen, greifen direkt auf die falschen Versprechen moderner Fortschrittsversprechen zurück, die nicht nur die Architektur und das Bild von Städten wie Wien definieren, sondern auch die Ruinen der Kriege und Kolonien, die bis heute tiefere Kluften in unserer globalisierten Gesellschaft graben. Kandis Williams macht zur Skulptur die Beziehung zum Wort und Bild, in dem Themen wie Rassismus, soziale Gerechtigkeit und moralische Integrität den Mittelpunkt einnehmen. Die Bedeutung von Empathie in einer Gesellschaft, die von Vorurteilen und Ignoranz geprägt ist, wird in ihren „Readers“ und ihren Collagen betont, in denen sie das immer noch prägende soziale Ungleichgewicht zwischen weißen und rassifizierten Menschen in den USA zeigt. Diese Bilder der normalisierten Gewalt und Kriminalisierung schwarzer Körper sind an sich so alt wie Harper Lees „Wer die Nachtigall stört“ (1960), in dem die Protagonisten, Atticus und Scout, darüber sprechen, dass es eine Sünde ist, eine Nachtigall zu töten, weil sie einfach ihr Lied singen und niemandem Schaden zufügen. Die Nachtigall wird als Symbol für den schwarzen Farmarbeiter Robinson verwendet, der unschuldig war und niemandem Schaden zufügen, dennoch aber erschossen wurde. Die Nachtigall ist aber auch eine Figur, die Distanzen in dieser Ausstellung überbrückt. Die Nachtigall taucht auch in dieser Ausstellung immer wieder auf.
Pfeifen, zuhören, weitergeben, pfeifen, zuhören, wiedergeben, verstehen? Wer lernt von wem, wie zu pfeifen? Wie wird es in wessen Alltag eingesetzt, wie in Protesten und wann liegt im Pfeifen ein Potential zum Widerstand? Havîn Al-Sîndy nutzt unterschiedliche Werkzeuge, um alle bei der Frage von Kommunikation und Wissensweitergabe einzubeziehen. Die Arbeit „Resonanz. Im Nachklang“ behandelt das Pfeifen als eine Form des nonverbalen, codierten Austauschs zwischen Kindern, Robotern, Pilzen und Vögeln. Durch interaktive KI-Skulpturen entsteht eine Kakophonie von Erzählung und Ausdruck, die gleichzeitig gesellschaftliche Normen und Machtstrukturen hinterfragt, ähnlich wie bei Harper Lees literarischen Figuren, die die oberflächlichen Urteile und moralischen Verfehlungen der US-amerikanischen Gesellschaft enthüllen.
Ayham Majid Agha transformiert zuletzt seine eigenen Texte im Stil anderer Dichter, und diese Übersetzung wird zum Ornament. Diese werden auf subtile Weise zwischen den Räumen integriert und damit die Stille zwischen den Versionen. Die Stille in der Geschichtsschreibung, in der bestimmte Geschichten unterdrückt werden, findet keinen Platz in Loos' Vorstellung von klaren, einfachen und einheitlichen Erzählungen in der Architektur. In der Ausstellung werden seine Gedichte zwischen den Werken präsentiert, die diese Gegensätze visuell und thematisch aufgreifen.