A R I E L H A S S A N
And The World Will Naturally Settle
22. Juni – 27. August 2022
Öffnungszeiten
Di–Fr, 12 Uhr–18 Uhr
Sa, 11 Uhr–15 Uhr
Ariel Hassan
And the World Will Naturally Settle
Von Paul Feigelfeld
Ariel Hassans Arbeiten vollziehen Bewegungen in verschiedenen Extremen und Geschwindigkeiten: Die großformatigen Malereien wirken wie meteorologische Satellitenbilder jener Sturmsysteme, die unsere Welt formten, als Gaia und Uranos erste Atmosphären und Urkontinente schufen, als aus unendlicher Gewalt zwar noch nicht die primordialen Bedingungen von Leben, aber doch von erster Existenz entstanden. Es ist die Zeit, da Saturn seine Kinder verschlingt, fern noch von menschlichen Zeugen, und doch ist es Hassan gelungen, über Äonen diese Wetterlagen und ihre Entwicklungen aufzuzeichnen – oder hat der Künstler, wie der Luftgeist Ariel in Shakespeares „Sturm“, ebendiesen im Auftrag eines Zauberers selbst „bis ins Kleinste“ gebaut?
Wir finden uns in magnetischen Stürmen, die sich der menschlichen Erfahrbarkeit entziehen, weil sie uns augenblicklich in Stücke reißen würden; wir landen in der Tiefenzeit geologischer Formationen, der Auffaltung von Gebirgen, den endlos langsamen und doch brutalen Bewegungen tektonischer Platten, die sich zermalmen, bis ein Beben die Vernichtung bringt. Blitz und Serie – Ereignis und Donner.
Zwischen diesen Intensitäten, bevor Blitz und Donner sich entladen, baut sich ein dunkler Vorstrom auf, der im Vorhinein deren Wege im Negativ bestimmt. Diese Vorströme münden in drei Objekten, die als Fulguriten – jene Formen, die durch Blitzeinschlag in Erde und Sand zu spontaner Verglasung führen – in den Galerieräumen eingeschlagen sind. Wieder ist unklar, ob Ariel Hassan nur Zeuge, Archäologe oder technisches Medium dieser Prozesse ist, oder doch Schöpfer, Geist, Zauberer, Blitze schleudernder Gott. „Alles lenkt der Blitz/Tὰ δὲ πάντα οἰακίζει Κεραυνός“, sagt Heraklit.
Fest steht, dass Ariel Hassans Kunst keine Kunst des Anthropozäns ist. Wenn sie denn etwas mit uns Menschen zu tun hat, dann mit unserem Kannibalismus: Die stürmische Serie trägt den Titel „Antropofagia“ (wörtlich Menschenfressen) und bezieht sich auf das 1928 erschienene „Manifesto Antropófago“ des Schriftstellers und Essayisten Oswald de Andrade, einer Schlüsselfigur des lateinamerikanischen Modernismus. „Tupi, or not to Tupi: That is the question“ - so lautet der zweite Satz des Manifests. Andrade wirft Shakespeare dem rituellen Kannibalismus des Ureinwohnerstamms der Tupi zum Fraß vor. Ariel macht sich aus dem Staub.
Zwischen Goyas „Saturno devorando a su hijo“ von 1819, dem bereits erwähnten, seine Kinder verschlingenden Titanen, und der post- und anti-kolonialen Theorie Andrades, nach der die Kolonisierer aufgefressen, durch Riten und symbolische Prozesse verdaut und substituiert, nicht assimiliert, nicht cachiert, sondern faschiert werden müssen, entwickelt Ariel Hassan eine Kunstpraxis, die die Kunst selbst verzehrt - sich verschlingende Artefakte, Artefagia.
Verkehren wir unseren Blick auf Hassans „Antropofagia“-Serie, so sehen wir eine mittlerweile einige Jahrzehnte alte Strömung generativer Kunst, die speziell in den letzten Jahren durch die Fortschritte in der Entwicklung von maschinellen Lernverfahren – zum Beispiel sogenannter Generative Adversarial Networks oder kurz GANs - die Galerien, Messen und Museen dieser Welt mit Arbeiten kolonisiert hat, die vorgeben, die künstlerischen Träume sogenannter künstlicher Intelligenzen zu sein. Tatsächlich sind sie Produkte eines technokapitalistischen Kolonialismus, der auf Ressourcenausbeutung, immensem Energieaufwand, überwachungsbasierter Datenökonomie und diskriminierenden Klassifikationssystemen aufbaut. Jene faszinierenden, verzaubernd wabernden Bildteppiche verschleiern das unheimliche Tal, das wir durchwandern, anstatt Blicke in die technische Welt zu erlauben, die sich vor uns auftut. In Form von NFTs haben sie ihre finale Tulpenform gefunden, und die koloniale Teufelkreislaufwirtschaft ist perfekt.
Unter diesem Blickwinkel wird klar, dass Ariel Hassans Bilder die anthropophagischen Gegenbilder zur GAN-Kunst sind: Sie sind GANNIBALEN ganz im Sinne Andrades, Kunstweltludditen, ihre Praxis, ihr Kult ist „Entropofagia“ statt „Antropofagia“, das Auffressen technischer Unordnung durch Kunst. Entropie ist der Feind jeder Ordnung: Die Welt ist alles, was Zerfall ist.
Der Titel der Ausstellung – „ And the World Will Naturally Settle“ - ist dem Kapitel 37 des 道德經 Daodejing von 老子 Laozi entnommen. Der Satz findet sich auch auf einer der aus Fragmenten, Schuppen, Scherben oder Puzzleteilen zusammengesetzten Assemblagen, die als tektonische Platten diesen Planeten im Innersten zusammenhalten und gelegentlich zerreißen. Im Wort „settle“, jenem vermeintlich sanften Sich-Legen der Stürme oder Angelegenheiten, einem Zu-Innerem-Gleichgewicht-Finden, setzt sich auch der Kolonialismus einer Welt fest, die sich selbst besiedelt und vertilgt. In „naturally“ steckt die Idee, dass die Welt einer natürlichen Ordnung unterliegt und ihr immer wieder zustrebt, sofern diese Ordnung ausreichend verstanden und der Mensch ihrer Herr und Steuermann geworden ist.
In den 1950er Jahren befassten sich nämlich nicht nur Beatniks, sondern vor allem die aus Militärprojekten nach Big Sur in Kalifornien weitergesiedelten Denker und Ingenieure der Kybernetik – Norbert Wiener, Gregory Bateson, Warren McCulloch, R. Buckminster Fuller und andere – schon lange vor den Hippies und Kommunarden mit dieser Philosophie und reverse engineerten daraus die technokapitalistische Welt, die sie für die beste aller möglichen hielten: Selbstregulierend, algorithmisch gerecht, restlos verschaltet und natürlich kontrolliert, also techno-harmonisch. An Bord des Spaceship Earth sollte kein Unterschied mehr herrschen zwischen Kunst, Technik und Natur. Entropie und Unordnung waren nur noch technisch regulierbare Variablen in Informationssystemen und Nachrichtenkanälen. Diese Harmonie nannte der Regisseur Werner Herzog, als er seinen Film „Fitzcarraldo“ inmitten des Amazona-Urwalds drehte, dem auch Andrade entspringt: “The harmony of overwhelming and collective murder“. Und er ergänzte: “We have to become humble in front of this overwhelming misery and overwhelming fornication... overwhelming growth and overwhelming lack of order. We have to get acquainted to this idea that there is no real harmony as we have conceived it.”
„Doch es waren nicht Kreuzfahrer, die kamen. Es waren Flüchtlinge einer Zivilisation die wir jetzt aufessen, denn wir sind stark und rachsüchtig wie der Jabuti“ - so antwortet Andrade als er im Jahr 1928 schon vorausblickt in diese neue, erschöpfende kybernetische Kolonisierung der Welt. Von der Anthropophagie bewegen wir uns zur Autophagie, der Selbstvertilgung des Planeten. Ariel Hassan ist der Chronist dieser Fluchtbewegungen, er begleitet in unterschiedlichsten Rollen – als Luftgeist Ariel, als Alter vom Berge Hassan I Sabbah, als modernes Medium, als Satellit, Anthropologe und -phagist – die unterschiedlichsten Zeiten und Räume in seiner Kunst.